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Straßburg und das Anti-Richter-Dilemma

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Wenn ein Staat anfängt, bei der Ernennung von Richter_innen herumzutricksen, bringt er das Recht in ein Dilemma: Kann eine solche Richter_in trotzdem wirksam Urteile fällen, als wäre nichts geschehen? Wie immer man diese Frage beantwortet, den Schaden hat das Recht. Das ist der Grund, warum der massive Trend in so vielen Ländern, die Justiz politisch unter Kontrolle der Regierung bzw. Parlamentsmehrheit zu bekommen, so verheerend für die Rechtsstaatlichkeit ist: Sie kann nur noch verlieren.

Jetzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in diesem Dilemma Position bezogen. In einer Kammerentscheidung über einen isländischen Fall hat die Mehrheit geurteilt, dass ein Gericht, an dem regelwidrig ernannte Richter_innen mitwirken, nicht i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK "auf Gesetz beruht". Was bedeutet, dass jeder, den ein solches Gericht zu einer Strafe verurteilt, allein deshalb einen Menschenrechtsverstoß erfährt und sein Recht auf ein faires Verfahren in Straßburg einklagen kann. Der EGMR übernimmt damit zu einem guten Teil die Kontrolle darüber, ob die nationalen Regeln bei der Richterernennung eingehalten wurden. Das, so scheint mir, könnte in Polen noch massive Folgen haben, und nicht nur dort.

Der EGMR-Fall, den das Urteil entscheidet, spielt denkbar weit weg von den bisherigen Hauptschauplätzen des justizpolitischen Geschehens in Europa: nämlich in Island. Die Regierung in Reykjavik hatte 2017 ein neues Berufungsgericht namens Landsréttur mit 15 Richter_innen installiert. Bewerber_innen für diese Posten sollten nach den gesetzlichen Regeln von einem Expertenausschuss evaluiert und gerankt werden. Die Justizministerin war aber mit der Auswahl des Ausschusses nicht zufrieden und ersetzte vier der 15 Namen auf dessen Liste, aus welchen Gründen auch immer, durch andere. Das lag im Prinzip auch in ihrer Kompetenz, sofern das Parlament zustimmt, nur war sie dabei verwaltungsrechtlich an bestimmte Verfahrensstandards gebunden. Zwei unterlegene Bewerber hielten die für unterschritten und klagten, und in der Tat: die Ministerin hätte zumindest die Qualifikation der vier Bewerber_innen, die sie von der Liste gekickt hatte, mit der Qualifikation derer vergleichen müssen, die sie an ihre Stelle setzte, stellt der Oberste Gerichtshof fest und sprach ihnen einen Schadensersatzanspruch für den erlittenen Reputationsschaden zu.

Damit war aber noch nichts darüber gesagt, was denn nun aus den auf solch makelhafte Weise ernannten Richter_innen zu werden hatte. Es dauerte aber nicht lange, bis diese Frage virulent wurde, und zwar im Fall eines Isländers, der ohne Führerschein am Steuer erwischt und deswegen zu 17 Monaten Gefängnis und lebenslangem Fahrverbot bestraft wurde. Der Fall landete beim Landsréttur, und zwar vor einer Kammer, der eine der vier von der Ministerin ins Amt gebrachten Richter_innen angehörte. Der Kläger fand, dass deren Entscheidung nichtig sei, scheiterte mit dieser Ansicht aber beim Obersten Gerichtshof: Die umstrittene Richterin habe die formellen Voraussetzungen für ihr Amt erfüllt und ihre Ernennung sei formell korrekt verlaufen. Dass die Ministerin dabei einen Fehler begangen habe, könne nicht gleich dazu führen, dass die Rechtsprechung des Landsréttur deshalb zu "toten Buchstaben" werde. Die vier Richter_innen seien mit allen Befugnissen dieses Amtes ausgestattet, und was sie urteilen, das gilt.

Looking behind appearances

Anders jetzt die EGMR-Kammer. Das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, so das Mehrheitsvotum, impliziert, dass der urteilende Spruchkörper nach Recht und Gesetz zustande gekommen ist und nicht die Regierung, sondern das Recht darüber bestimmt, wer ihm angehört. Wenn die nationalen Regeln zu Besetzung und Kompetenz eines Gerichts verletzt sind, dann mache das für sich genommen schon das Verfahren unfair, so wie Verletzungen der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Gerichts (RNr. 100). Jedenfalls in "flagranten" Fällen, wenn die verletzten Regeln fundamental und integraler Teil der Errichtung und Funktionsfähigkeit der Justiz sind bzw. die Richter willkürlich oder unter offener Missachtung der Regeln ernannt wurden, will sich Straßburg dazu selber eine Meinung bilden, auch wenn die nationale Justiz für die Einhaltung der nationalen Regeln in erster Linie zuständig bleibt (RNr. 102).

Der EGMR betont dabei ausdrücklich, dass er die dunklen Wolken am europäischen Justiz-Horizont fest im Blick hat.

(T)he Court must look behind appearances and ascertain whether a breach of the applicable national rules on the appointment of judges created a real risk that the other organs of Government, in particular the executive, exercised undue discretion undermining the integrity of the appointment process to an extent not envisaged by the national rules in force at the material time.

Diese Grundsätze wendet die Kammermehrheit auf den isländischen Fall an und findet sie, anders als der Oberste Gerichtshof, auf "flagrante" Weise verletzt.

The mere fact that a judge, whose position is not established by law within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention, determines a criminal charge, suffices for a finding of a violation of that provision in conformity with the fundamental principle of the rule of law.

Zwei Richter, Paul Lemmens aus Belgien und Valeriu Griţco aus Moldawien, sind indessen anderer Meinung:

The majority open a Pandora’s box, by offering to convicted persons an argument, indefinitely available, to challenge their conviction on the basis of grounds (as in the case at hand) that have nothing to do with the fairness of the trial.

The judgment is in our opinion an example of “overkill”. The pilot in this case (the Minister of Justice, followed by Parliament) made a navigation mistake, but that is not a reason to shoot down the plane (the Court of Appeal).

Nur weil Richter nicht korrekt ins Amt gekommen sind, höre ein Gericht nicht auf, "auf Gesetz zu beruhen" (Art. 6 Abs. 1 EMRK). In diesem Fall sei es weder um die Unabhängigkeit des Gerichts noch um die Rechte unterlegener Bewerber gegangen.

Die Konsequenzen des Urteils, das notiert das Minderheitsvotum mit Nachdruck, sind keineswegs auf Island beschränkt:

The present judgment will also have consequences for States other than the respondent State. The question will undoubtedly arise whether and to what extent court decisions can be challenged on the basis of a flaw in the procedure for appointing a judge to sit on the bench, a flaw which may have occurred a long time before the case arrived before that judge. May we predict that this is an issue that, sooner rather than later, will return to the Court, in the framework either of its contentious jurisdiction or of its newly acquired advisory jurisdiction?

You may indeed, würde ich antworten, und ich würde mich wundern, wenn der Kammermehrheit diese Konsequenz entgangen wäre. Im Gegenteil, meine Vermutung wäre, dass sie – um die Metapher des Minderheitsvotums aufzugreifen – diesen Fall zu einer Art Flakgeschütz ausgebaut haben, um korrumpierte nationale Justizsysteme, die für den Menschenrechtsschutz in Europa zum Problem werden, gezielt vom Himmel schießen zu können.

In Polen urteilt heute das von der Regierung gesteuerte und personell nun wahrhaftig "flagrant" fehlerhaft besetzte (allerdings von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht abgedeckte) Verfassungsgericht zu der Frage, ob der ebenfalls von der Regierung gesteuerte Nationale Justizrat nun von der Regierung gesteuert ist oder nicht – eine Frage, die im laufenden Verfahren vor dem EuGH relevant werden wird.

In dieses Getümmel stürzt sich jetzt auch der EGMR. Das ist sehr riskant, da hat das Minderheitenvotum schon recht. Aber gälte das für das Gegenteil nicht auch?


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